Aufsätze

Johann Nepomuk David „ein großer Unzeitgemäßer“ im 20. Jahrhundert


Josef Friedrich Doppelbauer
Er war ein Unzeitgemäßer, der in kein Schema passt, selbst die übliche Bezeichnung  „großer Kontrapunktiker" ist unzureichend; eher müsste man „Polyphoniker" sagen. Sein Werk hat viele Facetten. Es ist zugleich klassisch und manieristisch (Manierismus im Sinn vom Umschlagen des Rationalen in das Irrationale verstanden). Der Eindruck des Unzeitgemäßen entsteht, wenn das Schaffen eines Künstlers mehrere Generationen mit ihren wechselnden ,,-ismen" umfasst. Davids Jugend fiel in die Zeit des Expressionismus, die Mannesjahre in den futuristischen Tendenzen der zwanziger Jahre. David hat das alles intensiv durchlebt und transformiert und ist daher keiner Richtung voll zurechenbar. Den Expressionismus hat er in der Jugend durchlebt und in den vordergründigen Tendenzen überwunden, der Neoklassik ist er nicht voll zurechenbar, da seine Linienkunst expressiv bleibt, die Alterswerke verschmelzen folgerichtig klassische Formkraft mit irrationaler Hintergründigkeit. Er ist eine singuläre Erscheinung. Solche Naturen sind der notwendige dialektische Widerspruch zu allen vordergründigen Zeittendenzen.

Sein synoptischer Blick fand die Synthese aus Altem und Neuem, weil er die tiefer liegenden Übereinstimmungen erschloss und nicht im zeitbedingt Peripheren stecken blieb. Zu dem so anders gearteten Schönberg besteht insofern einen Parallele, als beide, wenn auch mit verschiedenen Mitteln, die Entwicklung Kunstwerks aus einem einzigen Kern anstreben. David ist primär polyphoner Melodiker. Seine Musik ist immer von starken Impulsen bestimmt; von den Frühwerken in Dur und Moll führt ein weiter Weg zu Panchromatik der Spätwerke, in denen modifizierte Prinzipien der Reihentechnik aufgegriffen werden, allerdings mehr im Sinn eines differenzierten Cantus-Firmus-Denkens. Um das Linienspiel verständlich zu machen, sind tonale Bezugspunkte nötig, die wie Pfeiler das Netzwerk des melodisch-harmonischen Raums tragen. Diese Auflösung kompakter Klanglichkeit in dynamisches Linienspiel ergibt eine irisierende Klanglichkeit, die auf anderen Wegen nicht erreichbar ist und zu neuen Aussagen befähigt.

Seine Werke enthalten eine Fülle kostbarer Details, die sich erst - wie bei Bach - liebevoller Versenkung erschließen, dann aber eine dauernde Quelle der „Recreation" des Geistes und Gemütes sind, um Bachs Worte über den Sinn der Musik anzuwenden. Die Sinfonien Davids sind Wunderwerke an architektonischem Bau und visionärer Tiefenschau: ihre Zeit kommt erst. David war vom Gedanken des musikalischen Kathedralbaus beseelt. In seiner Schrift Der Kontrapunkt in der musikalischen Kunst sagt er: "So, wie die Skulpturen und Reliefe und Farbfenster (der Kathedralen) nicht Füllsel, nicht Kaprizen und nicht bloße fixe Ideen sind, so sind die Linien der Partitur alle thematisch bezogen und stimmen - gehört, oder nicht gehört - mit ein zum Lobe Gottes. „An anderer Stelle spricht David von Kathedralen als steingewordene Sinfonien". Seine großen Werke sind klanggewordene Kathedralen.

Davids Werk ist vom Prinzip her spirituell geprägt. Er ist aber kein Kirchenkomponist im Sinne eines Spezialisten. ähnlich wie Reger blieb er Katholik (in einem weitgefassten vorreformatorischen Sinn), schrieb aber vorwiegend für die evangelische Kirche. Das ist die Konsequenz persönlicher Entscheidungen. Seine Musik ist überkonfessionell. Sie wird aus religiösen Tiefen gespeist, für die historische Bedingtheiten sekundär bleiben. Betrachtet man die Texte der Motetten, so fällt ein Zug zur Mystik auf: nicht zufällig berief er sich oft auf Meister Eckehart als Geistesverwandten. Seine kontrapunktischen Künste sind nicht artistischer Selbstzweck, sondern sie haben Symbolwert.

Davids Orchesterwerke
Rudolf Stephan
Das Fundament der Davidschen Kompositionsweise ist die Erfahrung der alten Polyphonie, die der NiederlÄnder und der Bachs. Seinen Ausgang nimmt er gerne von sogenannten „cantus firmii“ oder Melodiemodellen. Alle Erscheinungen eines Werkes sollen eine gemeinsame Wurzel haben, nichts soll zufällig oder aus bloßer Willkür vorhanden sein. Kontrapunktische Ableitungen, auch komplizierte, stiften ihm, wie er namentlich aus der Kunst der Fuge gelernt hatte, Zusammenhang.

In der Mitte der dreißiger Jahre hat David, nachdem er die Verfahren reichlich in der (übrigens erfolgreichen) Orgelmusik erprobt hatte, sie auf Orchesterwerke übertragen und so einen neuen Typus, den der „kontrapunktischen Symphonie“, der mit der Ersten in a-moll op. 18 bereits fertig dasteht, geschaffen. Auch die bereits zwei Jahre früher entstandene 'Erste Partita' die aus einem Orgelwerk hervorgegangen ist, ist eine Symphonie. Nicht nur die Tatsache, dass David einen neuen Symphonietypus geschaffen hat, eine, der vielfältiger Ausprägung fähig ist, rückt in die Nähe Bruckners, sondern auch das unbeirrte Festhalten am hohen Stil, im Verzicht auf Orchestereffekte, pittoreske Einzelheiten, Programmatisches usf. Dieser hohe Stil wird auch nicht durch den „äußerst kunstreichen“ Walzer der 'Sechsten Symphonie op.46' verletzt. Es gibt selbstverständlich auch Unterschiede zwischen Bruckner und David, Unterschiede im Bereich des Stilistischen. Die Symphonien von David sind nicht abendfüllend, kaum länger als je 35 Minuten, sie sind weniger weiträumig, weniger „episch.“

Davids Orgelwerk
Wolfgang Dallmann
Johann Nepomuk Davids Orgelwerk umfasst 20 choralfreie und 50 choralgebundene StÜcke unterschiedlicher Form und Länge; in ihm befinden sich Choralvorspiele von Über 20 Minuten und große Zyklen wie etwa die  „Zwölf Orgelfugen“ von 90 Minuten Aufführungsdauer. Davids Choralwerk stellt sich zunächst in tradierten Formen dar. Die stilistische Entwicklung nimmt ihren Ausgang bei einem klangfreudigen, virtuosen spätromantischen Stil der choralfreien Werke, gegen die sich das Choralwerk in geläuterter Durchsichtigkeit abhebt; gleich von Beginn an bestimmt der cantus firmus die Satzstruktur. Im Verlauf der Entwicklung wird diese strenger, monothematisch, herber und verschlüsselter. David stößt Über eine expansive Erweiterung des Ausdrucks der Einzellinie Über eine Chromatisierung zu „Reihen“  in der Art der Zwölftönigkeit. Seine „erweiterte Tonalität“ verbleibt in einem Spannungsbezug zu einem Grundton, der die Tonart vertritt. Davids kontrapunktischer Stil bedeutet Vorrang der horizontalen Linie vor dem vertikalen Akkordgeschehen. Letzteres ist das Ergebnis des kontrapunktischen Satzes, von diesem abhängig und damit zweitrangig, jedoch keinesfalls willkürlich oder gehörmäßig irrelevant, obwohl gerade die Spätwerke in ihrer vertikalen Dichte kaum noch nachvollziehbar sind. Typische Stilmerkmale sind: Kanonstrukturen, Polymetrik, Polytonalität, Monothematik, Ausdruckkontrapunkt, Kombinatorik mehrerer Themen, thematische Metamorphose, Reihenfuge.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Junge Generation trifft JND
Roman Summereder

Zum Programm des Orgelabends am 10.Oktober 2014 in der Stadtpfarrkirche Linz im Rahmen der David-Tage 2014

Heimito von Doderers Roman „Die Dämonen“, ein Jahrhundertwerk der europäischen Literatur, ist in den späten 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts angesiedelt, exakt in jenen Jahren, als JND seine ersten großen Orgelwerke schuf – gerade wie Toccata und Fuge in f-moll, die den heutigen Abend eröffnet. Der Autor bezeichnet sein Opus magnum, das von einer Polyphonie verstrickter Handlungsstränge und –träger durchzogen ist, als „Chronik“. Er schreibt, der Chronist als rückwärts gewandter Prophet genieße den unschätzbaren Vorteil, stets in Kenntnis des Ganzen zu sein, auch wenn er in die Vorgänge nirgends selbst verstrickt ist. Genau dies ist der Ansatzpunkt des heutigen Programms und seiner Interpreten/-innen: Eine junge Organistengeneration kostet diesen Vorteil aus, indem sie - gleichsam als „Chronist“ einen Faden aus dem Geweb des Lebens - sprich: aus dem Orgelmusik-Gewebe des schon etwas abgelegenen, teils gar schon verblassten vergangenen Jahrhunderts zieht. Dabei werden, aus dem Ganzen sich ablösend, verschiedene Fäden einzelweis sichtbar: später Reger, mittlerer Hindemith, früher JND, mittlerer JND, später JND. Das kompositorische Erbe des 20. Jhs. (es ist reicher als viele es wahrhaben wollen) mitsamt seinen geistigen Grundlagen und spieltechnischen Anforderungen ins 21. Jh. hinüber zu retten, ist für die hochmotivierte junge Generation keine leichte Aufgabe. Überhaupt ist es mit Orgel und Orgelmusik nicht gerade einfach. Ihre sakrale Konnotation bewirkt vielfach Nasenrümpfen oder Berührungsunlust, ihre Anforderungen machen sich im durchwegs kommerzialisierten Kulturleben nicht bezahlt. JND schreibt 1962 in seinem Hans Henny Jahnn-Memoriale: In den besten Zeiten war der Organist eine Art Hausberg, eine Akropolis -, auf jeden Fall eine beachtete Erscheinung. Und die Orgel war der gelegentliche Stolz der Stadt bzw. der Kirche.- Die Orgelmusik selbst aber war immer ein eigentlich Mystisches, Liebe und Kummer der Musik und in stillen Stunden ihr Gewissen. Hochöffentlich und Hochgescheit, von Tausenden gehört und von nicht viel wenigeren unerhört, lebte und lebt sie am Rande -, bestaunt wie die Kathedrale, von Kundigen besucht und studiert, vom Unbefangenen kaum beachtet -, ... Wie soll ein junger Mensch mit solcher Charakterisierung heute umgehen? Und dann die handwerklichen Herausforderungen, die JNDs Orgelwerk stellt, die ermüdenden technischen Probleme! Wie packt man sie an? Franz Illenberger, JNDs legendärer Welser Adlatus und Interpret der ersten Stunde, erinnert sich 1980: ... denn Ansprüche technischer Art mussten fraglos erfüllt werden, Agogik und Dynamik in intuitiver Übereinkunft getroffen werden. Der strenge Meister „streng mit sich selbst wie mit den Seinen (im weitesten Sinne)“ er liebte den farbigen Klang. Und wenn ich es ihm einmal als Orgelspieler nicht recht machte, hatte ich zu wenig farbig registriert. Er liebte das Kontrastreiche, das klanglich Herausfordernde  und ebenso auch, das sei angefügt, die starken Impulse, den vitalen Zugriff. -

Paul Hindemith meinte einmal: Max Reger war der letzte Riese in der Musik. Ich bin ohne ihn gar nicht zu denken. Wie steht es nun mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Reger, Hindemith und JND? Strenger materialgebunden als Hindemith ist jedenfalls JNDs kompositionstechnischer Ansatz; er ist monothematisch wie bei Schönberg - aber anders: Quelle monothematischer Ableitung ist beim „klassischen“ Schönberg die Reihe, bei JND ist es der Cantus firmus. Während Reger die Polyphonie letzten Endes immer noch der Harmonik unterordnet, offenbart JNDs kompositorische Entwicklung nach und nach die Loslösung von der Funktionsharmonik. Bei ihm ist die freie polyphone Entfaltung den Zusammenklängen übergeordnet. Hingegen durchschritt Hindemith eine Entwicklung von der freien Klanglichkeit der 20er Jahre hin zu einer neu definierten Harmonik, die er im „Mathis“ erreichte. In kritischer Abkehr von der spätromantischen Alterationsharmonik wie auch von Schönbergs Zwölftondenken hat er die geheime Ordnung der Töne erlauscht und die Spannungsverläufe als harmonisches Gefälle erkannt. Gerade die Orgelsonaten lassen diese Festigung des Stils deutlich durchklingen. JND entsagt der Chromatik keineswegs. Er gebraucht sie aber nicht im Dauereinsatz wie Reger, sondern eher im ursprünglichen Wortsinn: als Färbung diatonischer Strukturen. Auf diese Weise erreicht er expressive Steigerungen der Linien. Die im Werktitel definierte Tonart f-moll ist phrygisch gefärbt. Dass JNDs lineare Polyphonie nicht allein aus geistiger Disziplin hervorgeht sondern auch vital bewegungsgezeugt ist, lässt das prägende Toccatenmotiv spüren: gleichsam aus der Hand rollende, die Bewegung nie unterbrechende Achtelketten von ineinander verschränkten, auf – und absteigenden Tetrachorden. Regersche Gestik klingt an. Mehr noch aber klingt Bruckner im Fugenthema und in der gesamten Klangarchitektur durch: in den weiträumigen (nicht regerisch-nervösen) Steigerungen, in den Engführungen, in der finalen Kombinatorik der Themen, im befreienden Durchbruch von Moll nach Dur.

Cantus-firmus-Denken, monothematische Konsequenz, Chromatisierung der Diatonik führten JND schließlich zur Dodekaphonie: Schönberg wie JND: beide systematisieren die Chromatik neu und entwickeln ex uno. Jedoch handhabte JND die Dodekaphonie unorthodox (er war eben niemandes Jünger). Zuletzt entledigt er sich wieder der strengen Reihenbindung und entwirft panchromatische  „Tonfelder“, die das zwölftönige Total jeweils möglichst vollständig entfalten. Davon zeugt der 1972, also 44 Jahre (!) nach dem f-moll-Opus geschriebene  „Thomas von Aquin“.

Wie kommt es zu diesem eigenartigen Werktitel? Die Komposition des ThvA steht in zeitlicher Nähe zu zwei ähnlich titulierten Stücken: 1972 noch der „Franz von Assisi“, 1970 der „Hölderlin“. Ãœber etwaige Verbindungslinien innerhalb dieser Trias darf man spekulieren. Fest steht, daß JND passionierter Leser und Kenner mittelalterlicher lateinischer Texte wie auch Hölderlins war. Ist der „Hölderlin! ein freies Nachempfinden von „Ode“, „Elegie“ und „Hymne“ mit musikalischen Mitteln, so handelt es sich bei ThvA und FvA schlichtweg um Cantus firmus-Arbeiten. Dem 3-sätzigen ThvA  im September 1975 von Wolfgang Dallmann in St. Florian uraufgeführt - liegt der 6-strophige eucharistische Hymnus „Pange lingua“ zugrunde (Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibs voll Herrlichkeit ...). Der Text wird dem Aquinaten zugeschrieben, geht aber zurück auf den viel älteren, gleichnamigen Kreuzhymnus des Venantius Fortunatus. Gesungen wird der Hymnus in den Liturgien am Gründonnerstag und zu Fronleichnam. Wir blicken wieder um 44 Jahre zurück: 1928 hat JND den Hymnus in Form einer 6-sätzigen, kanonischen Partita erstmals verarbeitet; dabei ist der ursprüngliche phrygische Modus noch allgegenwärtig (freilich auch transponiert). 1972 hingegen bewegt sich JND im freien zwölftonalen Tonraum und erweitert den phrygischen Hymnus in die Panchromatik hinein. So entsteht die schweifende „Irrationalität“ der Linienzüge. In jedem Detail, auch in jedem ornamentalen, wird sie aus den Motivzellen des Hymnus gespeist - und korrespondiert mit dem theologischen Inhalt, der ebenso wenig rational fassbar ist. Der 2. Satz ist im Grunde genommen ein vierstimmiger Satz mit emphatisch übersteigerter Cantus firmus-Kolorierung; Kongruenz von Struktur und Ornament ist darin besonders schön wahrnehmbar. Zur klangsinnlichen Wirkung trägt die quasi „gläserne“ grundtonlose Registrierung wesentlich bei (sie gelangt in ähnlicher Weise auch im 2. Satz von Choralwerk VIII zum Einsatz). Möglicherweise lag dem 77-jährigen JND daran, die zutiefst katholische, freilich auch vom Protestantismus abgelehnte Transubstantiationstheologie im skeptischen und agnostischen Klima der Moderne mit musikalisch-verschlüsselten Mitteln ein letztes Mal zu bekräftigen - und wenn auch als „Lamento“ im 3. Satz ... Gerade in der feingliedrigen Motivzellen-Arbeit dieses Spätwerks zeigt sich eine Parallele zum Spätwerk Max Regers: In Abkehr von der Hypertrophie seiner früheren sich überstürzenden, harmonisch kaum mehr kontrollierbaren Klanggebilde sucht der späte Reger klanglich und strukturell nach Transparenz und Ökonomie. Oft sind es jetzt nur viertönige Zellen, die seinen Werken harmonische und melodische Kohärenz verleihen, so z. B. in Fantasie und Fuge op. 135b und in den Neun Stücken op. 129. Die „Urzelle“ beider Opera ist symmetrisch aufgebaut und besteht aus den Tönen d-cis-b-a bzw. h-ais-g-fis; mit ihren Transpositionen ist sie allgegenwärtig. Wiewohl die Neun Stücke in der (noch) unbeschwerten Sommerfrische des Jahres 1913 in Kolberg an der Ostsee entstanden sind, erscheinen sie allesamt wie von einem zarten Trauerflor überschattet - so auch Präludium und Fuge in h-moll: ein feines quasi-impressionistisches Klanggespinst, das (wie ein „Lamento“ ...) den Zyklus abschließt.

Es fällt auf, dass der erklärte Orgel-Skeptiker Hindemith in seinen Orgelsonaten geistliche Thematik und die von der Orgelbewegung sanktionierte Linearität nicht aufgreift. Aber auch Regers „Griff ins Volle“ huldigt er nicht - vielleicht mit Ausnahme der „Phantasie“ in Sonate I. Die Orgel blieb ihm immer etwas fremd. Wogegen JND die Orgelbewegung als Komponist wie als Konzeptverfasser des Orgelbauprojekts in der Welser Christuskirche entscheidend ausformte. Gleichwohl ist Hindemiths Zugang subtil: frei nach Schumanns Kommentar über Mendelssohns Orgelsonaten handelt es sich auch bei seinen Orgelsonaten um ächt poetische Formen. Ob wirklich Hugo Distler deren Anreger war, bleibe dahingestellt. Fest steht, daß Hindemith von Distlers Vorführung der Stellwagen-Orgel in Lübeck-Jacobi im November 1932 sehr beeindruckt war. Als er dann im Sommer 1937 die Orgel gleich mit zwei Sonaten bedachte, hatte er im Jahr zuvor bereits drei (!) Klaviersonaten fertiggestellt, als Teil eines umfangreichen Sonatenzyklus, den er zwischen 1935 und 1955 schuf. Ist Hindemiths 2. Klaviersonate im Verhältnis zur ersten (worin das Zitat von Hölderlins „Der Main“ seine Emigration verschlüsselt ankündigt) kurz und leichtgewichtig, so erscheint auch Orgelsonate II als eine Art Divertimento. Hingegen sind in Orgelsonate I mit ihrem reich gegliederten 1. Abschnitt, dem eigentlichen Sonatensatz, geradezu bekenntnishafte Züge auszumachen. Im dreiteiligen 2. Abschnitt folgt auf eine versonnene Aria eine heftig herausfahrende, toccatenartige Phantasie, deren Ostinato und aufwärts gerichtete ff-Dreiklangsfolge  einer erbitterten Selbstbehauptung gleichkommen. Das abschließende Rondo aber führt in die Abgeschiedenheit und endet auf einem wie zu Eis erstarrten es-moll-Akkord. Darin widerspiegelt sich Hindemiths existenzielle Situation. Das Nazi-Regime hatte im Oktober 1936 ein Aufführungsverbot seiner Werke in Deutschland verhängt. Von Goebbels als Bannerträger des Verfalls und atonaler Geräuschemacher geschmäht, seine Frau Gertrud als Halbjüdin gebrandmarkt, kündigte er 1937 seine Berliner Professur. Nach Arbeitsaufenthalten in der Türkei emigrierten die Hindemiths im September 1938 in die Schweiz, wo die Zürcher Oper bereits im Mai den „Mathis“ herausgebracht hatte. Die offizielle Uraufführung von Orgelsonate I und II spielte Ralph Downes im Jänner 1938 in London. Jedoch hatte Walter Kraft zu Weihnachten 1937 bei verschlossenen Türen (!) eine Privataufführung der beiden Stücke in der Lübecker Marienkirche gewagt.

Daß JND sein Choralwerk VIII einem glühenden Nationalsozialisten, nämlich dem Berliner Domorganisten und Professor Fritz Heitmann, gewidmet hat, der es an der von Karl Kemper instandgesetzten Schnitger-Orgel in Berlins Eosander-Kapelle uraufführte, sollte nicht zu falschen Schlüssen führen. Es mag befremden, daß JND 1934 einer Berufung nach Leipzig folgte, während als entartet gebrandmarkte Komponisten, wie eben Hindemith, Deutschland verlassen mußten. Archivforschungen, die erst nach dem Fall der DDR möglich wurden, brachten zutage, daß JND niemals Parteimitglied war, vielmehr als politisch unzuverlässig gehandelt wurde und als Direktor des Leipziger Konservatoriums tagtäglich schikanösen Bespitzelungen und Bedrohungen ausgesetzt war. Mit Choralwerk VIII, dem dreisätzigen Choralkonzert über das Abendmahls- und Passionslied „Es sungen drei Engel ein süßen Gesang“, gelangte JND innerhalb des seit 1930 als work in progress entstehenden „Choralwerks“ zur Großform. Er erreicht damit die Dimensionen einer Reger´schen Choralfantasie, allerdings mit völlig anderen klanglichen und formalen Mitteln. Die Zahl 3 ist allgegenwärtig: in Dreiteiligkeit und Terzverwandtschaft der Sätze (g/h-es/g/e/es-g), sowie in oftmaliger Dreistimmigkeit und Dreischichtigkeit des Klangs. Der 1. Satz ist eine crescendierende Choralfuge, die C.f.-Zeilen erklingen im Pedal. (Man assoziiert gern Anklänge an den 1. Satz von Hindemiths Mathis-Symphonie, dem derselbe C.f. zugrunde liegt). Meditatives Zentrum des Satzes ist Strophe 9 Herr Jesu Christ, wir suchen dich, am heiligen Kreuze da finden wir dich, kontrapunktiert vom C.f. O Haupt voll Blut und Wunden. Im langsamen 2. Satz (interpoliert ist eine dreistimmige Scherzo-Fuge) bewirkt die extravagante grundtonlose Aliquotenmischung jenen charakteristischen „gläsernen“ Klang. (Eine dichte Wand von Aliquoten war dem Orgeldisponenten JND stets wichtig). Der virtuose 3. Satz ist wiederum eine Choralfuge mit toccatischen Elementen, polymetrischen Verschränkungen und motivischer Verdichtung „per diminutionem“ und „per augmentationem“.

In chromatischer Ausleuchtung und herber Linearisierung ging JND in der Schnitter-Tod-Partita kompositorisch noch einige Schritte weiter. Der „süße Gesang“ von Choralwerk VIII (in finsterster Zeit) hatte manche klangschwelgerische Mittel und orchestrale Effekte nötig gemacht, die in Choralwerk X fehlplatziert wären. Das 1946/47 niedergeschriebene, teils verhaltene, teils hochvirtuose Opus ist dem Andenken seines Linzer Schülers am Leipziger Konservatorium, Helmuth Hilpert, gewidmet; er fiel im 2. Weltkrieg. Choralwerk X, in dessen 6. Satz das legendäre Schnitterlied aus dem 30jährigen Krieg mit der gregorianischen „Dies irae“- Sequenz auf dramatische Weise verknüpft wird, hatte auf die Kriegsgeneration eine unglaublich suggestive Kraft und unheimliche Sogwirkung; zugleich übte es eine geradezu kathartische Wirkung aus. Interpreten der frühen Stunde, wie Anton Heiller und Paula von Mack, bezeugten dies lebhaft. Ob einzelne Strophen den 7 Sätzen zugeteilt werden können und sollen, bleibe dahingestellt. Die 4. Strophe Trutz, Tod! Komm her, ich fürcht dich nit! Trutz! Komm und tu ein Schnitt! entspricht freilich haarscharf dem forsch herausfahrenden 4. Satz mit seinen energisch akzentuierten, in sich verspießten Rhythmen. Das auf einem Regensburger Flugblatt des Jahres 1638 erschienene Mayenlied vom Menschenschnitter Todt, der die blumen ohn unterschied gehling abmehet zählte aber schon 16 Strophen, die zwei Jahre später auf 8o Strophen vermehrt wurde. Die Redundanz der Versdichtung aus dem 30jährigen Krieg wird zum Spiegel der unmittelbar erlebten Katastrophe des 2. Weltkriegs mitsamt Nazi-Terror und Atombombenabwurf. Die Folge von Bildern des Todes ist überwältigend, die scharfe und schneidende Klanglichkeit in den beiden Totentänzen (4. und 6. Satz) - wodurch lineare Polyphonie zum charakteristischen, geradezu Epoche machenden Stilmittel wurde - ist einfach atemraubend. Nach dem martialisch-gewaltsamen Auftrumpfen der leeren Quinte in organo pleno am Ende des 6. Satzes – im völligen Gegensatz zur hymnisch- verklärenden Organo-pleno-Schlußwirkung in Choralwerk VIII - ist die verhaltene, gleichsam als offene Frage verstummende „Berceuse“ des 7. Satzes umso erschütternder.

Die Orgel der Stadtpfarrkirche Linz wurde 2001/02 von OBM Gerald Woehl (Marburg/Lahn) erbaut; sie zählt 36 Register auf zwei Manualen und Pedal; das 2. Manual ist schwellbar. Die Tontraktur ist mechanisch, das Regierwerk ist mit einer elektronischen Setzeranlage ausgestattet. Ein Gutteil des historischen Pfeifenwerks aus den früheren Bauphasen (Mooser 1852, Hechenberger 1879, Mauracher 1953) wurde wiederverwendet, ebenso die 1953 von Franz Xaver Wirth geschaffene manieristische Gehäusefassade. Wiewohl Moosers ursprüngliche Disposition Grundlage von Woehls Neubau bildet, entstand bewußt keine historische Rekonstruktion sondern ein eigenschöpferisches Werk, das den romantischen Klangbestand lückenlos in ein zeitgemäßes Konzept integriert. Als Dom- und Pfarrorganist hatte Anton Bruckner zwischen 1855 und 1868 hier zu spielen. Und auch JND tat während seiner Zeit an der Lehrerbildungsanstalt hier Dienst.

 

 

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